Am 31.5. 1322 wählten die Kempener ihren ersten Stadtrat. Dieses Gremium, das Stefan Ank im Heimatbuch von 1975 mit einem „Stadt-Umland-Tag“ verglich, hatte 19 Mitglieder – allesamt Herren. Daran sollte sich für eine lange Zeit, genauer gesagt für gut 600 Jahre nichts ändern. Das war keine Kempener Besonderheit. Frauen hatten landauf landab kein Wahlrecht, durften keine Mandate ausüben, durften nicht wählen. Parlamente, selbst während der französischen Revolution oder in der Paulskirche waren reine Männerdomäne. In Preußen z. B. war ihnen jegliche politische Betätigung verboten. Erst 1908 wurde im ganzen Reich das Verbot politischer Tätigkeit für Frauen aufgehoben. Doch erst nach dem Zusammenbruch der Monarchie infolge der Novemberrevolution 1918 verordnete der Rat der Volksbeauftragten als vorläufige Reichsregierung per Dekret das aktive und passive Wahlrecht für Männer und Frauen. Gleichzeitig wurde das Wahlrecht für Soldaten eingeführt und das Wahlalter von 25 auf 20 Jahre gesenkt. Im Januar 1919 fand unter diesen Bedingungen die Wahl der Nationalversammlung als erste Reichstagswahl nach dem ersten Weltkrieg statt. Zu den ersten Frauen im Reichstag gehörten Marie Juchacz , die Gründerin der Arbeiterwohlfahrt und Agnes Neuhaus, die Gründerin des „Verein vom guten Hirten“, heute „Sozialdienst katholischer Frauen.“  Am 19. Februar 1919 hielt Marie Juchacz als erste Frau eine Rede im Reichstag und stellte zu Beginn ihrer denkwürdigen Ausführungen fest: „Meine Herren und Damen! Es ist das erste Mal, dass eine Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf.“

Die Weimarer Verfassung vom 14. August 1919 übernahm die Bestimmungen zum Wahlrecht.

In der Adventszeit des Jahres, am 14. 12. 1919, fand in Kempen eine Kommunalwahl statt. Es waren 24 Stadtverordnete zu wählen. Erstmals galt auch hier das Frauenwahlrecht. Bei einer Wahlbeteiligung von 83,3 % ging das Zentrum mit 18 Mandaten als klarer Sieger aus dieser Wahl hervor, 6 Mandate entfielen auf die SPD.

Umgehend begannen im Rathaus die Vorbereitungen auf die Konstituierung des neuen Rates, der damals noch Stadtverordnetenversammlung hieß. So berichtet das NIEDERRHEINISCHE TAGEBLATT in seiner Ausgabe vom 24. 12. 1919: „Am 23.Dezember 1919 bat der Bürgermeister Dr. K l o o s die neuen Abgeordneten zu einer Besprechung in den Sitzungssaal des Rathauses, um die Bildung von Kommissionen zu besprechen. Mit Ausnahme der Herren Capell und August Janßen waren alle neu- bzw. wiedergewählten Damen und Herren erschienen. Über die neue Kommissionsverfassung wurde im längeren Meinungsaustausch eine Einigung erzielt. Das Aussehen der neuen Stadtverordnetenversammlung, sowohl was die Zahl von 24 gegenüber 18, als auch die Persönlichkeiten anbelangt, weist eine bedeutende, auch durch die räumliche Ausdehnung in die Augen springende Veränderung auf. Die sechsgliedrige rote Genossenfraktion sitzt auf dem traditionellen linken Flügel. Auf der Zentrumsseite fallen die beiden Vertreterinnen, Frau Fervers und Frau Kramer, als neue Erscheinungen auf. Von beiden Fraktionsseiten wurde der Wille zu eifriger, zweckdienlicher Arbeit bekundet.“

Die als neue Erscheinungen titulierten Frauen Magdalena Fervers und Margarethe Kramer sind die ersten weiblichen Kempener Stadtverordneten. In der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 8. 1. 1920, also vor nunmehr 100 Jahren, wurden sie wie die anderen neuen Ratsmitglieder feierlich in ihr Amt eingeführt.

Magdalena Fervers war Hausfrau und Mutter von vier Kindern. Sie wohnte am Burgring 27. Dort betrieb ihr Mann Karl Fervers ein Ladengeschäft. Frau Fervers arbeitete als ehrenamtliche Bezirkspflegerin des St. Elisabethvereins. Sie war Mitglied des Ortsausschusses für Jugendpflege, Mitglied des Ortswohlfahrtausschusses, Mitglied des Ausschusses zur Verteilung von Notstandswaren sowie Mitglied des Ausschusses zur Prüfung des Interesses der Stadt an der dauernden Niederlassung eines Chirurgen.

Margarethe Kramer, Ehefrau von Peter Kramer,  war Prokuristin und wohnte an der Mülhauser Str. 13. Sie war anders als Frau Fervers, die als Mitglied in sozialen Ausschüssen eher dem Rollenklischee entsprach, Mitglied im Finanzausschuss, im Ausschuss zur Prüfung der Kassen oder im Badeausschuss. Die beiden Kempener Ratsdamen hatten sicherlich eine Pionierrolle. In den wenigsten Räten, besonders in ländlichen Regionen, gab es weibliche Stadtverordnete, sie hatten mit Vorurteilen und traditionellen Rollenzuweisungen zu kämpfen.

In seinem Buch „Das alte Kempen“ widmet sich Jakob Hermes dem durchaus toleranten, kunstsinnigen Kaufmann Karl Fervers und schildert folgende Begebenheit; „Karl Fervers betätigte sich weder in der großen noch in der kleinen Kommunalpolitik. Das tat umso eifriger seine Frau Magdalene, die nach dem ersten Weltkrieg als eine der ersten weiblichen Vertreterinnen in den Kempener Stadtrat berufen wurde. Als eines Vormittags die wackere Politikerin wegen einer Sitzung im Stadtparlament den Kochtopf verlassen musste, um sich dem Gemeinwohl zu widmen, begab sich der des Küchenzettels unkundige Ehemann unverdrossen zum Rathaus, klopfte diskret an die Tür des Sitzungssaales und bat das hohe Haus nach kurzer Entschuldigung wegen der Störung, seine Frau mal eben fragen zu dürfen, was heute gekocht werden sollte. Wenn auch die Antwort der gewiß verdutzten Ehefrau nicht überliefert ist, so können doch in der heiteren Stimmung dieses Zwischenspiels die Entscheidungen in Einstimmigkeit getroffen worden sein.“(Jakob Hermes: Das alte Kempen, S. 219)

Magdalena Fervers blieb bis zum 7. März 1924 in der Stadtverordnetenversammlung. Für die verbleibenden 2 Monate der Ratsperiode rückte mit Agnes Maaßen eine Frau nach, übrigens als erste sozialdemokratische Stadtverordnete. Dieses sieht Lilia Wick, die Autorin von „Geschichte der Frauen in Kempen“ als „Anfangserfolg“: „Zum ersten Mal wurde den Frauen in den städtischen Entscheidungsgremien offiziell ein Platz zuerkannt.“ (ebenda S. 291)

Als am 13.5. 1924 ein neuer Rat verpflichtet wurde, verblieb Margarethe Kramer als einzige Frau im Kempener Rat.

In der Einladung für die Sitzung vom 26. 4. 1927 ist als TOP aufgeführt: „Einführung von Fräulein Sauvageot als Stadtverordnete an Stelle der verstorbenen Stadtverordneten Frau Kramer.“  Wie schon im Falle von Frau Fervers folgte auch auf Frau Kramer eine Frau als Stadtverordnete.

Frau Fervers starb 82jährig am 12. Dezember 1946.

Die beiden ersten Kempener Ratsdamen wurden durch die Benennung von Straßen im Kempener Süden geehrt.

Derzeit hat der Kempener Stadtrat 11 weibliche Stadtverordnete. Diese Zahl stagniert seit der Kommunalwahl 2004 (2004 – 11 Ratsdamen, 2009 – 10 Ratsdamen). Gegenüber der Wahl im Jahre 1999, als 15 Frauen in den Stadtrat gewählt wurden, muss man einen Rückgang bzw. eine Stagnation konstatieren. Rita Süssmuth sieht in der politischen Beteiligung der Frauen „ein menschliches Grundrecht dessen Durchsetzung ein entscheidender Durchbruch für die Demokratie war.“ (Interview mit Rita Süssmuth in NRW, Das Magazin der Nordrhein-Westfalen-Stiftung Nr. 1/2019, S. 37) Sie sieht daher den Rückgang aktiver Beteiligung der Frauen bis hin zur Übernahme von Ämtern angesichts immer noch bestehender Benachteiligung als großes Problem und mahnt Lösungen an. Denn: „Wer heute annimmt, er könnte ohne Frauen in der Welt etwas bewirken, der irrt sich.“ (ebenda)

Heinz Wiegers, 5. 1. 2020